Die Transcevenole, der GR3 sowie ein kleiner Jahresrückblick

Zwar ist das aktuelle Jahr noch nicht ganz um, wandertechnisch kann jedoch bereits eine Bilanz gezogen werden. Natürlich verlief auch mein Jahr durch Corona etwas anders als geplant. Anstatt bereits im April nach Frankreich zu fahren und mir dort einige schöne Strecken anzusehen, wanderte ich stattdessen durch Deutschland. Als Alternative ging es zuerst auf den Eifelsteig. Falls die Grenze zu Frankreich geöffnet hätte, wäre ich so zumindest in unmittelbarer Nähe gewesen. Doch die Grenzöffnung kam erst später und so setzte ich meine Wandertour durch Deutschland auf dem Moselsteig fort. Danach ging ich zum Rheinsteig über. Bis Anfang Juli folgten noch der Saar-Hunsrück-Steig, Westerwaldsteig, Natursteig Sieg und der Rothaarsteig. Nach 2.000km war es dann Zeit das Verkehrsmittel zu wechseln und etwas zu radeln.

Das Alternativprogramm führte mich auf verschiedene Wege durch Deutschland. Durch den Lockdown genoß ich leere Wanderwege und ruhige Touristenhochburgen. Da alle Arten von Unterkünften geschlossen waren, blieb mir nichts weiter übrig als irgendwo wild zu zelten. An manchen Tagen war ich wirklich „für’n Appel und ’n Ei unterwegs.

Es war mittlerweile August geworden, als ich nun doch die Grenze nach Frankreich überqueren konnte. Der Fokus lag jedoch ersteinmal nicht auf Bahnstrecken. Vielmehr hatte ich es auf den Wanderweg GR3 abgesehen. Der Weg ist namentlich an den Fluß Loire angelehnt und folgt diesem mal mehr mal weniger direkt von der Quelle bis zum Atlantik. Mit knapp 1.250km ist der GR3 damit vermutlich der längste Wanderweg in Frankreich. Doch ganz ohne Eisenbahnbezug ging es nicht: Der GR3 beginnt am Mont Gerbier de Jonc in der Berglandschaft der Monts d’Ardèche, dem südöstlichen Teil des Zentralmassivs, wo sich auch die Quelle der Loire befindet. Man befindet sich hier knapp 40km südlich von Le-Puy-en-Velay. Einen ÖPNV sucht man hier vergebens. Also folgte ich einer unvollendete Bahntrasse namens „Ligne Transcevenole“ mit deren Bau im Jahr 1911 begonnen wurde, um in die Nähe des GR3 Startpunktes zu gelangen. Von der Nordhälfte der Bahntrasse existieren heute geschätzte 95% als Wanderweg.

Die Karte zeigt den Verlauf der Transcevenole. Der schwarze Teil der Linie ist vollständig fertiggestellt worden und kann zu Fuß erkundet werden. Vom roten Teil gab es nur wenig Bauleistungen, immerhin der über 3 Kilometer lange Tunnel du Roux wurde fertiggestellt. Wegen seiner Länge war der Tunnel etwas breiter als gewöhnlich und konnte so recht einfach in einen Straßentunnel umgebaut werden. An zwei weiteren Tunneln wurde die Arbeit begonnen. Insgesamt hätten auf der roten Linie 31 Tunnel entstehen sollen.

Die geplante Bahnlinie stand unter keinem guten Stern, denn schon 1914 mußten die Arbeiten wegen des Krieges wieder unterbrochen werden. Danach wurde nur an einem Teil der Linie weiter gearbeitet: Der im Departement Haute-Loire gelegene Teil der Strecke ist bis 1939 vollständig errichtet worden. Auf 32 Kilometern gibt es alles zu sehen was man für eine Bahnlinie braucht: Brücken, Bahnsteige, Tunnel, Bahnhöfe – alles war fertig und es fehlten nur noch Schienen, Schotter und Signale. An den Viadukten fehlen bis heute die Geländer und machen eine Wanderung auf diesem Weg für nicht schwindelfreie Personen so zu einer Herausforderung. Der 62 Kilometer lange südliche gelegene Streckenabschnitt im Departement Ardeche sah jedoch keinen unfangreichen Baubeginn. Lediglich der 3.336m lange Tunnel du Roux wurde fertiggestellt. Er dient heute als Straßentunnel. Zwei weitere Tunnel waren im Bau und wurden nicht vollendet Folglich ging die gesamte Strecke nie in Betrieb und der Weiterbau wurde ab 1940 nicht mehr verfolgt. Die 1940 gegründete Staatliche SNCF hatte genug damit zu tun sich um die Hinterlassenschaften der kürzlich verstaatlichten defizitären Eisenbahngesellschaften zu kümmern. Ein Weiterbau der noch unfertigen Gesamtstrecke war nicht denkbar, zumal der südliche Abschnitt laut Planungen einen teilweise abenteuerlichen Verlauf mit vielen Schleifen und Spiralen (!) erfordert hätte. Eine solche aufwändige Trassierung für eine neue Strecke – die zudem keine neuen Verkehrspotenziale erschließt – wollte man nicht mehr weiter verfolgen.

Ausschnitt der Spirale um den Berg Suc del a Gravenne. Alleine auf diesem Abschnitt wären 5 Tunnel gegraben worden. Kartenmaterial von www.geoportail.fr
Ausschnitt der Spirale um den Berg Suc del a Gravenne. Alleine auf diesem Abschnitt wären 5 Tunnel gegraben worden. Kartenmaterial von http://www.geoportail.fr

Über den eingangs erwähnten nördlich gelegenen 32 Kilometer langen Abschnitt erreicht man binnen 2 Tagen relativ bequem den südlichen Punkt des GR3 Fernwanderwegs. Es wurde Einiges dafür getan die ehemalige Bahntrasse als Fußweg zu erhalten. So sind alle Bahnhöfe und Tunnel mit kleinen Informationstafeln versehen worden und der Weg offiziell als „Le Transcevenole“ ausgeschildert.

Der Höhepunkt der „Transcevenole-Wanderung“ ist die Durchquerung des 2.626m langen Tunnels unter dem kleinen Ort Présailles, von dem der Tunnel auch seinen Namen hat. Große Teile des Tunnels waren bis 1940 bereits fertig gestellt worden. Das Mittelstück der Röhre ist jedoch unvollendet geblieben und der Tunnel wurde noch nicht bis zu geplanten Sohle hinab gegraben. Das Gewölbe an der Decke ist bereits durchgehend fertiggestellt worden, der Tunnel hat jedoch noch nicht seine finale Tiefe erreicht. Nach und nach scheint der Tunnel „kleiner“ zu werden und man könnte sich fast den Kopf an der Tunneldecke stoßen. Zu Fuß alleine durch einen so langen Tunnel zu gehen ist wirklich ein Abenteuer. Der Tunnel du Présailles ist da keine Ausnahme, ganz im Gegenteil.

Gute 45 Minuten befindet man sich in vollständiger Dunkelheit und in Abhängigkeit der mitgeführten Taschenlampe. Ein unübersehbares Wasserrinnsal begleitet den Wanderer hier. Zu Beginn wird das Wasser in einem abgedeckten Kanal geführt – man hört es lediglich rauschen und plätschern. Einige 100m später liegt der Wasserlauf frei. In Unregelmäßigen Abständen ist es erforderlich mit einem beherzten Schritt auf die andere Seite zu wechseln, jenachdem auf welcher Seite der Weg durch den Tunnel besser begehbar ist. Der Untergrund ist oft uneben und auf dem matschigen Boden zeichnen sich viele weitere Fußspuren der letzten Besucher ab. Wie alt mögen die Abdrücke wohl sein? Es gab Reifenabdrücke von Quads zu sehen und selbst Radfahrer haben sich in den Tunnel gewagt. Aber ich frage mich, ob diese es wirklich durch den ganzen Tunnel geschafft haben, denn der Weg wird schwerer je weiter man kommt. Auch sah ich eine Spur nackter Fußabdrücke auf dem schlammigen Boden.

Die Atomsphäre im Tunnel ist besonders, wie ich sie in keinem anderen Tunnel zuvor gesehen habe. In der Tunnelröhre herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit, richtige Nebelwolken hängen hier fest, wie auf meinen Fotos gut zu sehen ist. Da bringt auch die Taschenlampe keine große Weitsicht, das das Licht von den feinen Wasserpartikeln sofort reflektiert wird. Überall im Tunnel tropft Wasser von der Decke. Die Tunnelwände sind über und über mit Wassertropfen benetzt.

Die finale Herausforderung stellt jedoch das südliche Tunnelportal dar. Hier hat sich seit Jahren einiges an Wasser in einer großen Pfütze gesammelt und läuft nicht mehr ab. Das Wasser reicht ca. 100m in den Tunnel hinein und steht von einer Tunnelwand zur anderen. Gummistiefel wären hier ein nützlicher Ausrüstungsgegenstand. Doch wer hat schon für diese eine Gelegenheit extra Gummistiefel dabei? Erst recht wenn man zu einer mehrere hundert Kilometer langen Wanderung aufbricht? Zudem ist fraglich, ob die Gummistiefel überhaupt ausreichend hoch sind. Durch meine Vorrecherche und gefundene Fotos hatte ich eine solche Herausforderung erwartet und war dazu bereit für die letzten 100m in meine Badelatschen zu wechseln und mir die Wanderschuhe unter die Arme zu klemmen. Kleiner Tipp falls mir diese einmal jemand nachmachen sollte: In Badelatschen durch das kniehohe Wasser zu waten mag einfach klingen, hatte jedoch einen kleinen Haken. Der Schlick auf dem Grund wollte vor jedem Schritt meine Flipflops nicht mehr hergeben, die Schuhe klebten förmlich unter Wasser im Boden fest. Jeder Schritt vorwärts kostete enorme Kraft und an der Fußoberseite wurden die Riemen der Schuhe immer unangenehmer. Ich hatte schließlich Angst die Riemen meiner Badelatschen zu zerreißen und ging einen Schritt weiter: Ich zog nun auch die Badelatschen aus und ging Barfuß weiter. Der Schlick war schließlich schön weich und nicht unangenehm. Schritt für Schritt tastete ich mich weiter. Mit einem vollen Wanderrucksack auf den Schultern, den schweren Wanderstiefeln in einer Hand und mit der anderen an der Tunnelwand entlang tastend, gelangte ich schließlich aus dem Tunnel heraus. Diese letzten 100m kam ich sprichwörtlich nur im Schneckentempo vorwärts. Zu meinem Unglück warteten bereits zwei andere Wanderer neugierig hinter dem Tunnelausgang am Rand der Pfütze. Sie hatte das Licht meiner Taschenlampe schon vor einiger Zeit gesehen und waren gespannt wer sich da durch den Tunnel auf sie zu bewegte. Es gab also kein Zurück und es war auch nicht die Zeit hilflos zu wirken. Augen zu und durch.

Knapp 400m hinter dem Tunnelportal endet die Bahntrasse. Die Bauarbeiten ab der Departementgrenze waren minimal und es gibt kaum noch sichtbare Spuren. Auf Straßen und Feldwegen ging es noch an diesem Tag ein paar Kilometer weiter bis zum Kratersee Le Lac-d’Issarlès und am folgenden Tag erreichte ich schließlich den finalen Ausgangspunkt für meine GR3 Wanderung. Die zwei Tage auf der Transcevenole waren eine willkommende Abwechslung und der Tunnel de Présailles hält nun den Rekord als mein längster durchwanderter Tunnel. Schon lange hatte ich mit einem Besuch dieser Strecke geliebäugelt und konnte dies nun umsetzen. Immerhin ein Erfolg in diesem verrückten Jahr 2020.

Der GR3® ist der älteste der französischen Fernwanderwege. Er folgt dem Verlauf der Loire über rund 1.250 km, von der Quelle am Mont Gerbier-de-Jonc bis nach La Baule, wo der Fluss in den Atlantischen Ozean mündet.

Zwar habe ich auf der Transcevenole viele Fotos gemacht, war jedoch einzig mit meinem Smartphone ausgestattet. Eine umfassende Reportage zu dieser Strecke werde ich daher nicht liefern können. Und um ehrlich zu sein, so toll ist eine Streckenwanderung ohne Schienen nicht.

Die Transcevenole blieb schließlich jedoch nur ein kleines Kapitel und es folgten im Herbst noch weitere Gelegenheiten zum Bahntrassenwandern. Im September und Oktober konnte ich endlich dazu übergehen mich wieder als richtiger „Railwalker“ zu betätigen. Natürlich konnte ich den Zeitverlust vom Frühjahr nicht mehr aufholen. Zudem hatte ich es im Oktober bereits mit kürzeren Tagen zu tun und die Nächte im Zelt wurden auch nicht wärmer. Entschädigte wurde ich dafür durch die tollen Herbstfarben der Natur. So kann ich abschließend für 2020 die „Bewanderung“ folgender Bahnstrecken vermelden:

Durch einen Klick auf die Namen gelangt man zur Vorschau „Bericht von unterwegs„:

Erfahrungsgemäß eignet sich nicht jede Strecke für eine ausgedehnte Fotoserie. Die ersten beiden Linien in der Liste waren z.B. wettertechnisch ein totaler Reinfall. Hier war es wichtiger den Regenschirm zu halten als die Kamera. Ein erneuter Besuch wäre angebracht. Zwei weitere Linien waren Wiederholungsfälle und ich hatte über beide Strecken bereits umfangreich berichtet (siehe unten). Hier waren die Veränderungen Überschaubar und ich wollte nur mal sehen, wie sich die Vegetation auf den Linien vorarbeitet. Zwischen Limoux und Saint-Martin-Lys war ich zwar ebenfalls 2019 unterwegs, habe die Fotos aber noch nicht veröffentlicht. Zusammen mit den Fotos von diesem Jahr habe ich aber nun mehr als genug Material und aus dieser Linie eine tolle Fotoreportage zu erstellen. Irgendwann diesen Winter wahrscheinlich 🙂

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